Reißkraft

Reißkraft beschreibt die Kraft, die erforderlich ist, um einen Werkstoff, ein Bauteil oder eine Verbindung durch Zugbeanspruchung zu zerstören oder zu trennen. Im Rückbau von Beton und Gestein sowie beim Schneiden und Trennen von Stahl ist die Kenntnis der Reißkraft entscheidend, um Verfahren planbar, sicher und materialgerecht einzusetzen. Sie steht in engem Zusammenhang mit Kräften, die durch hydraulische Werkzeuge erzeugt werden, etwa durch Betonzangen im Betonabbruch, Stein- und Betonspaltgeräte im Einsatz, Steinspaltzylinder, Kombischeren, Stahlscheren, Multi Cutters oder Tankschneider. In den Einsatzbereichen Betonabbruch und Spezialrückbau, Entkernung und Schneiden, Felsabbruch und Tunnelbau, Natursteingewinnung sowie Sondereinsatz bestimmt die Reißkraft maßgeblich, welches Werkzeugprinzip und welche Hydraulikparameter zielführend sind.

Definition: Was versteht man unter Reißkraft

Unter Reißkraft versteht man die minimale Kraft, die notwendig ist, um ein Material oder Bauteil unter Zug- bzw. Abzugbelastung zum Versagen zu bringen. Sie ist eine Lastgröße (Kraft F in Newton bzw. Kilonewton) und von der Reißfestigkeit (Zugfestigkeit, eine Spannungsgröße in MPa) zu unterscheiden. Beide Größen hängen über den Querschnitt A zusammen: Näherungsweise gilt FR ≈ σR · A. Während die Reißfestigkeit eine materialtypische Kennzahl ist, berücksichtigt die Reißkraft zusätzlich Geometrie, Kerben, Risse, Lagerung und Belastungsgeschwindigkeit. Bei spröden Werkstoffen wie Beton oder Naturstein ist die Reißfestigkeit deutlich geringer als die Druckfestigkeit; die Versagensart ist rissgetrieben. Bei duktilem Stahl tragen Einschnürung und Dehnung bis zum Bruch dazu bei, dass die Reißkraft stark mit der Querschnittsfläche und der Werkstoffgüte variiert.

Mechanische Grundlagen und Zusammenhänge

Spannung ist Kraft pro Fläche (σ = F / A). Reißkraft entsteht dort, wo Zugspannungen kritisch werden: an Kerben, Bohrlöchern, Rissen, Kanten oder unter exzentrischer Belastung. In der Praxis wirken oft Mischzustände: Druck am Werkzeugangriff (Zange, Keil, Messer) führt im Bauteil zu Biegezug und Spaltzug – dort setzt die Rissbildung ein.

Hydraulik: von Druck zur Kraft

Hydraulische Werkzeuge konvertieren Systemdruck in Kraft. Für Zylinder gilt idealisiert F = p · A (Systemdruck p, Kolbenfläche A). Hydraulikaggregate für konstante Systemdrücke liefern den erforderlichen Druck und Volumenstrom, um die Kraft an Betonzangen oder Stein- und Betonspaltgeräte zu übertragen. Die Reißkraft am Bauteil entsteht daraus, wie die Werkzeugkraft über Geometrie und Kontaktbedingungen in Zugspannungen umgewandelt wird. Beim Spalten erzeugen Keile und Spreizkörper radiale Spannungen, die zu Spaltzug führen; bei Zangen wird durch Quetschen und Biegen Zug an der Gegenseite induziert.

Hebelarme und Kinematik bei Zangen und Scheren

Die Kraft am Zylinder übersetzt sich über Hebelarme und Gelenkkinematik in Backenkraft. Je nach Stellung der Backen variiert der effektive Hebel; die lokale Spannungsspitze am Bauteil ergibt sich aus Kontaktfläche, Kantenradius und Reibung. Bei Betonzangen steht die Rissinitiierung im Beton im Vordergrund, bei Stahlscheren und Multi Cutters das Durchtrennen von Profilen oder Bewehrung. Wo Bauteile zusätzlich herausgerissen werden (z. B. Befestigungen oder Platten), wird unmittelbare Reißkraft wirksam.

Reißkraft im Betonabbruch, Felsabbruch und der Natursteingewinnung

Im Betonabbruch werden Bauteile kontrolliert aufgerissen: Betonzangen erzeugen gezielte Rissbildung und lösen Betonteile schrittweise, während Bewehrung gezielt getrennt oder gezogen wird. Stein- und Betonspaltgeräte bringen über Bohrlöcher Spaltkräfte in das Bauteil oder Gestein ein, die den Zugwiderstand überschreiten und damit eine definierte Trennfuge schaffen – vibrationsarm und ohne Schlagwirkung. In der Natursteingewinnung und im Felsabbruch lässt sich die Reißkraft durch Bohrbild, Bohrlochtiefe und Spreizrichtung so steuern, dass der Rissverlauf der Struktur (Schichtung, Kluftsysteme) folgt.

Entkernung und Schneiden

Bei Entkernungen werden Anbauteile, Installationen und Verbundsysteme gelöst. Relevante Reißkraftphänomene sind das Abziehen von Dübeln und Ankern, das Herauslösen von Leitungsdurchführungen sowie das Aufreißen von Verbundschichten. Betonzangen und Multi Cutters können Bauteile anfahren, anritzen, biegen und dadurch Zugspannungen bis zum Versagen erzeugen. Tankschneider und Stahlscheren trennen Bleche und Profile; wo Materialverbünde, Schweißnähte oder Korrosionszonen versagen, bestimmt die lokale Reißkraft das Aufbrechen der Fügezone.

Einflussfaktoren auf die erforderliche Reißkraft

  • Werkstoff: Betonfestigkeitsklasse (fct), Zuschlag, Feinkornanteil; Stahlgüte und Duktilität; Gesteinsart (Granit, Kalkstein, Sandstein) und Anisotropie.
  • Geometrie: Querschnitt, Bohrlochabstände und -durchmesser, Kantenabstände, Exzentrizitäten.
  • Vorschädigungen: Haarrisse, Kerben, Aussparungen, Korrosion, Ermüdung.
  • Randbedingungen: Lagerung, Zwängungen, Temperatur, Feuchte, Alterung (Carbonatisierung), Frost-Tau-Wechsel.
  • Belastungsrate: Dynamische oder stoßartige Beanspruchung erhöht häufig die scheinbare Reißfestigkeit spröder Werkstoffe, verändert aber den Bruchmechanismus.
  • Bewehrung und Verbund: Bewehrungsgrad, Verbundverhalten, Verbundlängen, Ankerdesign; bei Verbundbauteilen dominiert oft die Haftzugfestigkeit.
  • Gesteinsgefüge: Klüftigkeit, Schichtung, Wasserfüllung und In-situ-Spannungen im Tunnel- oder Felsbau.

Berechnung und Abschätzung in der Praxis

Für eine erste Abschätzung kann die Reißkraft aus einer repräsentativen Zugfestigkeit und dem wirksamen Querschnitt berechnet werden: FR ≈ σR · A. Typische Zugfestigkeiten liegen bei Normalbeton im Bereich von etwa 2–4 MPa (Spaltzug), bei Naturstein variieren sie stark (z. B. Kalkstein ca. 3–10 MPa, Granite auch deutlich höher), bei Baustahl in Größenordnungen von mehreren hundert MPa. In der Praxis bestimmen jedoch Kerben, Bohrungen und Randabstände maßgeblich die notwendige Werkzeugkraft.

Beispiel 1: Rissbildung in einer Betonplatte

Eine 30 cm breite und 15 cm dicke Plattenzone (A = 0,045 m²) mit einer mittleren Spaltzugfestigkeit von 3 MPa ergibt eine grobe Reißkraft von F ≈ 3·106 N/m² · 0,045 m² = 135 kN. Bei direkter Zangenbeanspruchung sind aufgrund von Kerb- und Biegewirkung lokal geringere Kräfte ausreichend, um den ersten Riss zu initiieren; für das vollständige Abtrennen sind hingegen Reserven für Rissfortschritt, Reibung und Bewehrungstraganteile einzuplanen.

Beispiel 2: Abziehen eines Ankers

Bei einem M16-Stab (A ≈ 157 mm²) und einer Stahlzugfestigkeit von 500 MPa ergäbe sich theoretisch F ≈ 78,5 kN. Praktisch bestimmt jedoch häufig die Haftzugfestigkeit des Verbunds im Beton das Versagen. Wird eine Verbundfläche von 2.000 mm² mit 2 MPa Haftzug festgesetzt, reicht bereits F ≈ 4 kN, um den Verbund zu lösen – der Stahl bleibt dabei unbeschädigt. Die Abschätzung muss daher stets Verbund- und Randbedingungen berücksichtigen.

Mess- und Prüfverfahren

  1. Zugversuch an Probekörpern: Ermittlung der Zugfestigkeit (Reißfestigkeit) von Stahl, Faserverbunden oder Kunststoffkomponenten.
  2. Spaltzugversuch (Brazilian Test): Indirekter Nachweis der Zugfestigkeit spröder Werkstoffe wie Beton und Naturstein.
  3. Abziehversuche (Pull-off): Bestimmung der Haftzugfestigkeit von Beschichtungen, Verbundschichten und Ankerverbindungen.
  4. Feldmessung über Hydraulikdruck und Lastzellen: Ableitung der Werkzeugkraft an Betonzangen oder Stein- und Betonspaltgeräten aus Systemdruck, Kolbenfläche und Kinematik.

Reißkraft und Werkzeugprinzipien

Die Wahl des Werkzeugs richtet sich nach dem Mechanismus, mit dem Reißkraft im Bauteil erzeugt werden soll:

  • Betonzangen: Rissinitiierung durch Quetschen und Biegezug, anschließendes Abtrennen; Reißkraft zeigt sich im Rissfortschritt und beim Herauslösen von Teilbereichen.
  • Stein- und Betonspaltgeräte mit Steinspaltzylindern: Erzeugen Spaltzug um das Bohrloch; die Reißkraft hängt von Bohrbild, Spreizweg, Reibung und Materialanisotropie ab.
  • Kombischeren und Multi Cutters: Wechsel zwischen Schneiden, Quetschen und Herausziehen; die resultierende Reißkraft ist stark lage- und kantenabhängig.
  • Stahlscheren und Tankschneider: Primär Scher- und Schneidvorgang; Reißkraft wird relevant, wenn Nähte, Verbünde oder korrodierte Bereiche aufbrechen oder wenn Profile gezogen werden.
  • Hydraulikaggregate: Dimensionieren den verfügbaren Druck und Volumenstrom; über Kolbenfläche und Übersetzung ergibt sich die am Werkstück anliegende Kraft, die in Reißkraft umgewandelt wird.

Anwendung im Betonabbruch und Spezialrückbau

Im Spezialrückbau wird die Reißkraft genutzt, um Bauteile kontrolliert zu separieren: Trägerauflager werden mit Betonzangen freigelegt und aufgerissen, Deckenfelder entlang Bohrbildern mit Stein- und Betonspaltgeräten gespaltet, Bewehrung anschließend mit Stahlscheren getrennt. In Bereichen mit strengen Erschütterungs- und Lärmvorgaben (Sondereinsatz) erlaubt das Spalten ein progressives Überschreiten der lokalen Zugfestigkeit bei minimierter Randbeeinflussung. Im Tunnel- und Felsbau unterstützt die Reißkraftgesteuerte Spaltung den Verlauf entlang klüftiger Zonen; die Werkzeuggestaltung folgt der gewünschten Risslinie.

Planung: Von der Reißkraft zur Werkzeugwahl

Für eine belastbare Planung werden Reißkraftanforderungen in einfache, prüfbare Größen überführt. Hilfreich ist ein schrittweises Vorgehen:

  • Bauteilaufnahme: Material, Geometrie, Bewehrung, Verbunde, Randabstände, Bohrbilder.
  • Kennwerte ermitteln oder ansetzen: Spaltzugfestigkeit, Haftzugfestigkeit, Stahlgüten; konservative Bandbreiten wählen.
  • Abschätzen der erforderlichen Reißkraft je Trennschnitt bzw. Spaltabschnitt; Reserven für Reibung, Rissverzweigung und Unwuchten berücksichtigen.
  • Werkzeugprinzip festlegen: Zangen für Rissinitiierung und Abbruchkanten, Spaltgeräte für ruhige, linienförmige Trennungen, Scheren/Cutter für Bewehrung und Stahl.
  • Hydraulikparameter ableiten: Minimaler Systemdruck, erforderliche Kolbenflächen bzw. Backenkräfte, Taktzeiten.
  • Probefeld durchführen: Rissverhalten verifizieren, Bohrbild oder Angriffspunkte anpassen.
  • Überwachung: Druck-/Kraftniveaus, Rissfortschritt, Abplatzungen; Anpassung bei Abweichungen.

Sicherheit und allgemeine Hinweise

Reißvorgänge sind rissgetrieben und können spröd verlaufen. Schutzbereiche, Abstützungen und Rückhaltesysteme sollten so ausgelegt werden, dass unvorhergesehene Rissverläufe und Bruchsprünge abgedeckt sind. Bei Verbundsystemen (Anker, Schichten, Sandwichaufbauten) empfiehlt sich ein vorsichtiges Laststeigerungsregime mit kontinuierlicher Beobachtung. Maßgebliche Normen, Richtlinien und behördliche Vorgaben sind zu beachten; Angaben und Abschätzungen sind generell zu verstehen und ersetzen keine objektspezifische Bemessung.

Praxiswissen: Stellhebel für eine zielgerichtete Reißkraft

Folgende Stellgrößen helfen, Reißkraft effektiv und kontrolliert zu nutzen:

  • Angriffspunkt variieren: Kanten, Kerben und bestehende Risse begünstigen den Rissanriss.
  • Kontaktfläche steuern: Kleinere Auflage erzeugt höhere Spannungsspitzen (mit Augenmaß bzgl. Abplatzungen).
  • Bohrbild optimieren: Lochabstand und Tiefe für Stein- und Betonspaltgeräte an Material und gewünschte Risslinie anpassen.
  • Lastpfad lenken: Vorschnitt mit Scheren/Cuttern reduziert Nebentraganteile (z. B. Bewehrung), sodass die Reißkraft gezielt im Beton wirkt.
  • Druckregime staffeln: Hydraulikdruck schrittweise erhöhen, Rissfortschritt beobachten, Kontakt neu setzen.